Stufenplan zur Wiedereröffnung der bayerischen Kindertageseinrichtungen
Dringlichkeitsantrag der Abgeordneten Martin Hagen, Julika Sandt, Alexander Muthmann, Matthias Fischbachund Fraktion (FDP)
Der Landtag wolle beschließen: Die Staatsregierung wird aufgefordert, mit einen Stufenplan die Wiedereröffnung der bayerischen Kindertagesstätten in die Wege zu leiten. Durch folgende Übergangsregelungen sollen frühkindliche Bildung und Kinderbetreuung schrittweise wieder ermöglicht werden:
Da die Reproduktionsrate der COVID-19-Infektionen stabil bei ca. 1 und einem Verdopplungszeitraum von deutlich mehr als 14 Tagen liegt, ist die Notfallbetreuung dahingehend auszuweiten, dass möglichst viele Kinder in Gruppen mit ca. fünf bis sieben Kindern betreut werden. Um hierfür größtmögliche Kapazitäten zu erreichen, sind folgende Maßnahmen zu ergreifen:
1. Es sind Gespräche mit den Kommunalen Spitzenverbänden zu führen mit dem Ziel, dass Kommunen nach Möglichkeit Räume, die derzeit tagsüber nicht genutzt werden (z.B. Veranstaltungsräume), zur Kinderbetreuung zur Verfügung stellen. Um das zu ermöglichen, setzt die Staatsregierung bauliche Vorschriften, die ausschließlich für Kindertagesstätten gelten und nicht sicherheitsrelevant sind – wie niedrige Toiletten und Waschbecken für Kinder – vorübergehend außer Kraft.
2. Die Kindertagesstätten werden ermutigt, Kinder verstärkt im Freien zu betreuen. Spielplätze und Sportstätten sind insbesondere zur Nutzung durch Kindertagesstätten wieder zu öffnen. Kindertagesstätten, die Wälder und Parks nutzen, werden von den Bayerischen Staatsforsten und dem Sozialministerium darin unterstützt, beispielsweise mit pädagogischem Material für Waldkindergarten-Projekte.
3. Infektionsschutzvorschriften und Hygienepläne sind streng einzuhalten. Bei der Betreuung im Freien können sich die Hygienemaßnahmen an die Standards anlehnen, die für Waldkindergärten gelten. Der Hygieneplan „Routinemäßige Hygienemaßnahmen in Kindertageseinrichtungen“ ist zu prüfen und ggf. an die aktuelle Situation anzupassen.
4. Die Vorschriften zum Anstellungsschlüssel sind vorübergehend zu lockern, damit pädagogische Ergänzungskräfte und qualifizierte Kindertagespflegepersonen weitreichendere Aufgaben übernehmen können, beispielsweise die Betreuung einer Kleingruppe. Pädagogische Fachkräfte sollen vorrangig bei Vorschulkindern und Kindern mit Förderbedarf eingesetzt werden.
5. Sind mehrere Geschwisterkinder in einer Einrichtung, sollten sie vorübergehend in der gleichen Gruppe betreut werden. Die Gruppe kann hierdurch entsprechend vergrößert werden.
Sollten die Betreuungsplätze unter diesen Voraussetzungen nicht für alle Kinder ausreichen, werden die Plätze wie bereits angekündigt zunächst an Kinder vergeben, bei denen mindestens ein Elternteil in einem systemrelevanten Beruf arbeitet oder die mit einem alleinerziehenden Elternteil im Haushalt leben. Weitere Plätze werden nach folgenden Kriterien priorisierend zugewiesen:
1. Das Kind hat einen besonderen Förderbedarf
2. Es handelt sich um ein Vorschulkind
Liegt die Reproduktionsrate über einen Zeitraum von zwei Wochen stabil unter 1 und der Verdopplungszeitraum bei mehr als 28 Tagen, sind die Gruppen so weit zu vergrößern, dass alle Kinder wieder ihre Kita besuchen können. Eltern dürfen in dieser Phase nicht mehr aufgrund des Notfallbetriebs daran gehindert werden, ihrem Beruf nachzugehen. Die obenstehenden sechs Maßnahmen – insbesondere die Lockerung des Anstellungsschlüssels und der baulichen Vorschriften – gelten jedoch vorübergehend fort, damit die Gruppen so klein wie möglich gehalten werden können.
Sobald ein Impfstoff gegen COVID-19 vorhanden ist, wird zum Normalbetrieb übergegangen, bei dem die pädagogische Qualität im Vordergrund stehen muss.
Begründung:
Das Betretungsverbot für Kinder in Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen oder Heilpädagogischen Tagesstätten war bei seinem Inkrafttreten am 16. März 2020 eine angebrachte Maßnahme, um die schwer einzuschätzende Verbreitung des COVID-19-Virus entscheidend einzudämmen.
Inzwischen kommen mehrere internationale Studien zu dem Ergebnis, dass das COVID-19Virus eine sehr geringe Infektionsrate unter Kindern hat, weshalb seine Ausbreitung durch Kindergarten- und Schulschließungen kaum beeinflussbar sei. [1] Nicht nur in Bayern liegt die Zahl der Kinder im Vorschulalter unter den Infizierten bei deutlich unter einem Prozent. Auch dort, wo größere Teile der Bevölkerung – also potenziell auch asymptomatisch Erkrankte – getestet wurden, wie in Heinsberg oder in Island, hat sich gezeigt, dass die Zahl der Kinder unter den Infizierten verschwindend gering ist.
In Bayern ist seit dem 16. März nur noch unter bestimmten Voraussetzungen eine Notbetreuung möglich. Die meisten Eltern müssen ihre Kinder zwangsweise zu Hause betreuen. Dies führt entweder dazu, dass die Ausübung des eigenen Berufs nicht mehr möglich ist oder dass eine Kinderbetreuung mit der Arbeit im Home-Office kombiniert werden muss. Wie jedoch beispielsweise das Institut der Deutschen Wirtschaft darstellt, ist der entscheidende Faktor für eine Arbeit im Home-Office eine störungsfreie Umgebung. [2] Die ist jedoch bei gleichzeitiger Kinderbetreuung meist nicht gewährleistet. Das Elternteil, das die Kinderbetreuung überwiegend übernimmt, kann seinen beruflichen Anforderungen möglicherweise nicht vollumfänglich gerecht werden. Gerade angesichts der dramatischen Situation auf dem Arbeitsmarkt sind Eltern, die Kinder betreuen, nicht konkurrenzfähig. In unserer Gesellschaft trifft es überwiegend die Mütter, vor allem bei den Alleinerziehenden. [3] Somit kann eine Schließung von Kindertagesstätten verheerende Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit und die Aufstiegschancen von Frauen haben.
Aber auch für die Kinder kann die fehlende Betreuung durch eine Kita zu Nachteilen führen. Während Eltern ihren Beruf im Home-Office ausüben, können sie Kleininder und Kinder im Vorschulalter nur sehr eingeschränkt fördern. Nicht auszuschließen ist, dass die Doppelbelastung der Eltern in einigen Familien zu tagelangem unkontrolliertem Medienkonsum der Kinder führt.
Auch die fehlenden sozialen Kontakte können sich negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirken. Dabei ist wissenschaftlich belegt, dass die frühkindliche Bildung maßgeblich für den weiteren Bildungserfolg ist, ebenso wie für Entwicklungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen. [4] Ein monatelanger Ausschluss aus Kitas kann also gravierende Folgen für Kinder haben.
Aus diesen Gründen ist die Wiedereröffnung der bayerischen Kindertageseinrichtungen ein Ziel von hoher sozialer und volkswirtschaftlicher Relevanz. Gleichzeitig ist der Schutz vor einer Verbreitung des COVID-19-Virus zu beachten. Um beiden Anliegen gerecht zu werden, wird hier ein Stufenplan vorgeschlagen.
Je nach Verdopplungszeitraum und Reproduktionsrate soll in einem ersten Schritt die Notfallbetreuung in den Kindertagesstätten ausgeweitet werden. Um das Infektionsrisiko weiter zu verringern, ist gemäß den Ausführungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften die Gruppengröße zunächst auf maximal fünf Kinder zu verringern. [5] In einem zweiten Schritt sollen Kitas wieder für alle Kinder geöffnet werden – bei möglichst niedrigem Infektionsrisiko.
Um die Kinder räumlich zu entzerren, sollen die Raumanforderungen für den Betrieb der Kindertageseinrichtungen so weit gelockert werden, dass Räume außerhalb der Kitas zur Kinderbetreuung genutzt werden können. Auch ein stärkerer Einsatz der Kinderbetreuung unter freiem Himmel, wie beispielsweise bei Waldkindergärten, ist aus gesundheitlichen Gründen zu fördern.
Damit in ausreichendem Maße Personal für die Betreuung in kleinen Gruppen vorhanden ist, sollte übergangsweise die Leitung einer Gruppe auch für pädagogische Ergänzungskräfte und qualifizierte Kindertagespflegepersonen ermöglicht werden. Entsprechende Regelungen zu einer regelmäßigen Sichtung der Gruppe durch pädagogische Fachkräfte sollten vor Ort getroffen werden. Die pädagogischen Fachkräfte sind vor allem bei Kindern mit besonderem Förderbedarf und bei Vorschulkindern einzusetzen, um diese Kinder möglichst professionell zu fördern.
Bei Geschwisterkindern ist davon auszugehen, dass sie gerade während der Ausgangsbeschränkungen außerhalb der Kita jeweils ähnliche Kontakte haben. Wenn Kinder aus der gleichen Familie in einer Gruppe sind, ist daher das Infektionsrisiko geringer als bei Kindern aus verschiedenen Familien.
[1] Vgl. https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lanchi/PIIS2352-4642(20)30095-X… und https://www.handelsblatt.com/dpa/konjunktur/wirtschaft-handel-und-finan…
[2] Vgl. https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/beitrag/andrea-hammermann-…
[3] Vgl. https://www.henrikkleven.com/uploads/3/7/3/1/37310663/klevenetal_aea-pp… und https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318160/umfrage/alleinerz… [4] Vgl. https://www.bmbf.de/de/fruehe-foerderung-67.html
[5] Vgl. https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_04_13_Coronav…